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Tumbas

Gräber von Dichtern und Denkern

Erschienen am 15.09.2006
19,95 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783829602662
Sprache: Deutsch
Umfang: 152 S., 70 Duotone-Taf.
Format (T/L/B): 2.9 x 28.5 x 23 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

"Welches Grab war das erste, das ich beschrieben habe, als ich noch nicht an dieses Buch dachte? Ich war schon über vierzig, ein viel zu später Leser von Proust; und auch dort, auf dem Père Lachaise, dieses Gefühl, fast so etwas wie ein Verwandter zu sein, das Gefühl, zuviel zu wissen. Es war 1977, ich war noch ganz erfüllt von Albertine und Charlus, von der Herzogin von Guermantes und Norpois, von Bloch und Elstir. Und es war ein Novembertag. Allerseelen, kalt und winterlich. Die Lebenden besuchten die Toten, und ich besuchte die meinen und hielt fest, was ich sah und dachte. Die Bestsellerliste des Todes wurde von Balzac angeführt: Er hatte vier Sträuße Chrysanthemen und zwei brennende Lichter. Proust mußte sich mit zwei kunstlos abgelegten Sträußchen rostfarbener Astern zufriedengeben. Gérard de Nerval mit einem einzigen ganz kleinen, rührenden Strauß blauer Blümchen. Heute, so viele Jahre später, sehe ich das Blau dieser Vergißmeinnicht noch vor mir. Balzac und Nerval liegen an derselben Gasse, der eine schräg gegenüber vom anderen; wer zu Proust möchte, muß, wie auch Besucher von Piaf, den Weg verlassen - ohne die Landkarte dieses Totenreichs würde man sein Grab nicht finden. Als ich davor stand, wußte ich nicht so recht, was ich denken sollte. Es ist ja auch verwirrend. Während ein Grab Anwesenheit vortäuscht - schließlich steht ein Name darauf, liegt ein Toter darin -, bezeichnet es natürlich gerade die Ab-Wesenheit einer Person: Proust ist nirgendwo mehr, also auch nicht hier. Und dennoch, angesichts der konkreten schwarzen marmornen Form des Grabes wiegt man sich einen Moment in der Illusion, er sei anwesend, man sei bei ihm; wenn es nicht albern wäre, würde man du côté de chez lui sagen und dabei an zwei schmale Kirchtürme irgendwo in der Normandie denken, haben sie doch im Leben des Kindes, das zu dem Mann werden sollte, der nun in dem Grab liegt, eine so wichtige Rolle gespielt, daß er mich durch die Art, wie er darüber geschrieben hat, heute noch zwingt, über ihn und seine verlorene und wiedergefundene Zeit nachzudenken. Warum? Weil er diese Zeit nicht nur für sich, sondern für jeden, der ihn liest, wiedergefunden hat. Aber bin ich denn bei ihm? Ist nicht vielmehr er mit seinem ganzen Leben, mit all den Figuren, von denen ich nie gehört hätte, wenn ich ihn nicht gelesen hätte, zu mir gekommen? Es ist nichts zu machen, ich werde einfach das Gefühl nicht los, daß dieses schwarze, glänzende Grabmal vor mir randvoll mit verdichteter Zeit ist, mit wiedergefundener Zeit, die der Autor von der verlorenen zurückerobert hat, so daß dem Leser noch eine nebulöse Ahnung davon bleibt, wer Charlus oder Madame Verdurin oder Albertine waren, Schemen, die sonst für immer verschwunden wären wie all ihre unbeschriebenen Zeitgenossen." (Cees Nooteboom). ". Auch zwischen Tausenden von Grabsteinen habe ich nie das Gefühl, daß ich bei einem Toten zu Besuch komme. Das Verhältnis ist immer ein persönliches, auch zu Dichtern, die schon so lange tot sind wie Vergil, Hölderlin, Leopardi. Sie gehören zu meinem Leben, weil sie dieses Leben auf die unterschiedlichste Weise und in den unterschiedlichsten Augenblicken begleitet haben.". Cees Nooteboom, der die Kontinente bereist und die Welten der Literatur durchwandert hat, besucht seine "geliebten Toten", wo immer er sie findet, um Zwiesprache mit ihnen zu halten, sich ihrer Worte, ihrer Unsterblichkeit zu versichern. Er pilgerte zu Keats und Shelley auf den "Friedhof der Fremden" in Rom, wo auch Goethes Sohn und die Söhne Wilhelm von Humboldts liegen; zu Thomas Mann, James Joyce und Elias Canetti nach Zürich; zu Balzac, Proust und Nerval auf dem Pariser Père Lachaise; zu Brecht und Hegel, die nah nebeneinander auf einem kleinen Friedhof im Osten Berlins begraben sind. Die Gedanken, die er sich angesichts der so verschiedenartigen letzten Ruhestätten großer Dichter, Schriftsteller und Philosophen gemacht hat, die Verse und Worte, die sie in ihm wachriefen, sind wie immer bei Nooteboom lesenswer

Leseprobe

"Welches Grab war das erste, das ich beschrieben habe, als ich noch nicht an dieses Buch dachte? Ich war schon über vierzig, ein viel zu später Leser von Proust; und auch dort, auf dem Père Lachaise, dieses Gefühl, fast so etwas wie ein Verwandter zu sein, das Gefühl, zuviel zu wissen. Es war 1977, ich war noch ganz erfüllt von Albertine und Charlus, von der Herzogin von Guermantes und Norpois, von Bloch und Elstir. Und es war ein Novembertag. Allerseelen, kalt und winterlich. Die Lebenden besuchten die Toten, und ich besuchte die meinen und hielt fest, was ich sah und dachte. Die Bestsellerliste des Todes wurde von Balzac angeführt: Er hatte vier Sträuße Chrysanthemen und zwei brennende Lichter. Proust mußte sich mit zwei kunstlos abgelegten Sträußchen rostfarbener Astern zufriedengeben. Gérard de Nerval mit einem einzigen ganz kleinen, rührenden Strauß blauer Blümchen. Heute, so viele Jahre später, sehe ich das Blau dieser Vergißmeinnicht noch vor mir. Balzac und Nerval liegen an derselben Gasse, der eine schräg gegenüber vom anderen; wer zu Proust möchte, muß, wie auch Besucher von Piaf, den Weg verlassen - ohne die Landkarte dieses Totenreichs würde man sein Grab nicht finden. Als ich davor stand, wußte ich nicht so recht, was ich denken sollte. Es ist ja auch verwirrend. Während ein Grab Anwesenheit vortäuscht - schließlich steht ein Name darauf, liegt ein Toter darin -, bezeichnet es natürlich gerade die Ab-Wesenheit einer Person: Proust ist nirgendwo mehr, also auch nicht hier. Und dennoch, angesichts der konkreten schwarzen marmornen Form des Grabes wiegt man sich einen Moment in der Illusion, er sei anwesend, man sei bei ihm; wenn es nicht albern wäre, würde man du côté de chez lui sagen und dabei an zwei schmale Kirchtürme irgendwo in der Normandie denken, haben sie doch im Leben des Kindes, das zu dem Mann werden sollte, der nun in dem Grab liegt, eine so wichtige Rolle gespielt, daß er mich durch die Art, wie er darüber geschrieben hat, heute noch zwingt, über ihn und seine verlorene und wiedergefundene Zeit nachzudenken. Warum? Weil er diese Zeit nicht nur für sich, sondern für jeden, der ihn liest, wiedergefunden hat. Aber bin ich denn bei ihm? Ist nicht vielmehr er mit seinem ganzen Leben, mit all den Figuren, von denen ich nie gehört hätte, wenn ich ihn nicht gelesen hätte, zu mir gekommen? Es ist nichts zu machen, ich werde einfach das Gefühl nicht los, daß dieses schwarze, glänzende Grabmal vor mir randvoll mit verdichteter Zeit ist, mit wiedergefundener Zeit, die der Autor von der verlorenen zurückerobert hat, so daß dem Leser noch eine nebulöse Ahnung davon bleibt, wer Charlus oder Madame Verdurin oder Albertine waren, Schemen, die sonst für immer verschwunden wären wie all ihre unbeschriebenen Zeitgenossen... Auch zwischen Tausenden von Grabsteinen habe ich nie das Gefühl, daß ich bei einem Toten zu Besuch komme. Das Verhältnis ist immer ein persönliches, auch zu Dichtern, die schon so lange tot sind wie Vergil, Hölderlin, Leopardi. Sie gehören zu meinem Leben, weil sie dieses Leben auf die unterschiedlichste Weise und in den unterschiedlichsten Augenblicken begleitet haben ...".

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